Schriftauslegung

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Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflage, Band 9 (2000) 253-256

Schriftauslegung (I. Biblisch-theologisch)

1. Wie Exegese, so kann auch der Begriff Schriftauslegung in einem engen und weiten Sinn aufgefasst werden. Schriftauslegung wird oft gleichbedeutend mit Bibelauslegung bzw. Exegese gebraucht, übersteigt aber historische und philologische Methoden und integriert sie in die Auslegung der Bibel als Heiliger Schrift. Insofern akzentuiert Schriftauslegung nicht nur die (literar-)historische Seite der Bibel, sondern auch deren theologischen Anspruch, Gottes Wort im Menschenwort zu sein (vgl. Päpstliche Bibel-Kommission [PBK], Die Interpretation der Bibel in der Kirche III. D. 2). Schriftauslegung zielt also auf das Verständnis der Bibel als Heilige Schrift und damit als Kanon. Drei Aspekte sind wesentlich: a) die literarische Eigenart der Heiligen Schrift in ihrer Entstehung und Gestalt, b) die damit verbundenen Vorgaben für den Umgang mit der Schrift und c) die Funktion der Schrift im ekklesialen Kontext.

2. Gegenüber einem engen Verständnis von Kanon, das nur die Auswahl. Anordnung und autoritative Inkraftsetzung einer Liste biblischer Bücher berücksichtigt, thematisiert die neuere biblische Hermeneutik (vgl. u.a. PBK; Childs; Lohfink; Schürmann) den Kanon als Ausdruck des Glaubensbewusstseins der Glaubensgemeinschaft (synchron und diachron), die auch durch die Heilige Schrift im Dialog mit Gott steht (vgl. Vaticanum II, DV 8; 21). Die Bindung an die jüdische bzw. christliche Glaubensgemeinschaft tritt nicht sekundär zur Bibel als Heiliger Schrift hinzu (etwa erst mit einem synodalen Kanonentscheid), die biblischen Schriften werden in diesem Sinn nicht erst zum Kanon, sondern sie entstehen als Kanon, und zwar nicht zuletzt durch Schriftauslegung. Sie gehört insofern zum Wesen der Bibel selbst, als der literarische Prozess der produktiven Fortschreibung bzw. Rezeption, der zur Bibel als Heiliger Schrift geführt hat, auf weite Strecken immer auch ein Prozess der Schriftauslegung ist, in dem die Glaubensgemeinschaft ihre Glaubenserfahrungen und ihren Gebrauch der Glaubenszeugnisse in Gottesdienst und Unterweisung festgehalten hat. Schriftauslegung ist das konstitutive Element für die Glaubensgemeinschaft, um ihre Identität immer neu in der Schrift und durch diese zu finden (vgl. PBK III. A.3; B.1). In der Schriftauslegung werden die drei Dimensionen, die literarische (als Text), die soziologische (als Text einer Glaubensgemeinschaft) und die theologische (als heiliger Text) der Heiligen Schrift eingeholt. Schriftauslegung nimmt die Besonderheit der Heiligen Schrift vor allem von ihrer literarischen Dimension her auf.

3. Ein erstes literarisches Kennzeichen der Heiligen Schrift ist die Vielheit, Disparatheit, partielle Widersprüchlichkeit in der Einheit der Schrift. Historisch deutet sich diese Eigenart schon an im Verständnis des griechischen Plurals τὰ βιβλία („die Bücher“) als lateinischer Singular biblia („das [eine herausragende] Buch“). Die Vielfalt (der Bücher, Gattungen, Themen, Theologien usw.) ist sinnkonstitutiv. Die Pluralität im Nebeneinander des ungleichzeitigen Entstehens lässt sich auf der Ebene des Kanons beschreiben als verstetigter Dialog, der allein der Uneinholbarkeit des Inhalts (Gott in seinem Handeln an der Welt in und durch Israel und die Kirche, eschatologisch und protologisch durch, in und mit Jesus Christus) angemessen erscheint. Ein zweites Kennzeichen der Heiligen Schrift ist ihre komplexe Ordnung. Grundlegend besteht sie innerhalb des AT in der differenzierten Zuordnung von Tora („Gesetz“), Propheten und „Schriften“, innerhalb des NT von Evangelien, Apostelgeschichte und Apostelbriefen mit Offb als Abschluss. Gegenwärtige Bibelwissenschaft arbeitet v.a. im AT die vielfältigen Beziehungen zwischen den Großteilen und Büchern der Bibel heraus und sieht dabei deutlicher das je unterschiedliche Gewicht und die hermeneutische Relevanz der auf verschiedenen Ebenen erkennbaren Ordnungen (vgl. z.B. Sheppard; Lohfink). Die von den biblischen Autoren intendierten Beziehungen im komplexen Großtext der Schrift werden dabei als im Kanon „geronnener" Dialog entdeckt und durch so genannte kanonische Schriftauslegung aufgenommen und für das Verständnis der Texte fruchtbar gemacht, wobei dieses Verfahren in Rezeptions- u. Intertextualitätstheorien reflektiert wird. So wird bei aller internen Differenzierung und Pluralität der Aussagen der Kanon als ein einziges Sinngefüge gesetzt. Die Zusammenfassung der Bücher zu Großkomplexen („Gesetz“, „Propheten“, „Evangelien“; „Briefe“) steuert die Wahrnehmung einzelner Texte und eröffnet die Möglichkeit verschiedener Leseweisen, die sich auch in unterschiedlichen Gruppierungen Ausdruck verschafft haben (vgl. Sheppard): Der hebräische Bibelkanon betont an den Eckpunkten seiner Hauptteile noch die Spitzenstellung der Tora (Pentateuch), während die christliche Bibel auch die Tora unter der Perspektive der Prophetie liest. Im NT ist das Gegenüber von Evangelien (Jesus Christus als einmaliger Bezugspunkt) und Briefen (Vielfalt der gemeindlichen Glaubensgestalten) das wesentliche Strukturprinzip.

Über diesen Binnendifferenzierungen der Kanonteile steht als drittes Kennzeichen für die christliche Bibel die Zwei-Einheit der Schrift Alten und Neuen Testaments. Diese Gestalt der christlichen Bibel, welche die Einheit des Heilshandelns Gottes und die eschatologische Bedeutung Jesu widerspiegelt, ist nicht ohne das Phänomen der Schriftauslegung zu verstehen, denn zum einen gebraucht die Urkirche die Bibel Israels, um das Christusgeschehen zu verkündigen (Jesus als der Christus, der Messias der Bibel Israels), anderseits entsteht in den Schriften, die später zum NT werden, eine eigene Form der Schriftauslegung (vgl. H. Hübner und F. Mußner in: Dohmen-Söding). Dieses Hauptmerkmal der Schrift konstituiert ein komplexes, unaufhebbar spannungsreiches Neben-, Zu- und Gegeneinander der Kanonteile (vgl. PBK III. A.2), das nicht einsinnig beschrieben werden kann und darf. Nach der Kritik der neueren theologischen Diskussion an Bestimmungen des Verhältnisses der beiden Testamente (z.B. Gesetz versus Evangelium; Vorbereitung und Überbietung; Verheißung und Erfüllung usw.) wird gegenwärtig das Verhältnis v.a. als Dialog beschrieben, der in den vielfältigen (auch kontroversen und kritischen) Stimmen die Selbigkeit und Größe des göttlichen Handelns in Israel und der Kirche unter eschatologischen Vorzeichen angemessen bezeugt.

4. Eine die formalen und inhaltlichen Spezifika des Kanons zur Geltung bringende Schriftauslegung lässt sich nur in spannungsreichen Begriffspaaren beschreiben: Als Erinnerung des Zeugnisses der Schrift ist sie vergangenheits- und gegenwartsbezogen. Schriftauslegung ist als Rezeption produktiv im Sinn einer kontextuellen, je verschiedenen Aktualisierung, lässt darin aber das verbindliche Zeugnis der Schrift in ihrer Einheit laut werden. Die Kirche wird immer wieder durch die Zwei-Einheit ihrer Heiligen Schrift daran erinnert, dass das eschatologisch Neue der Erfahrung Jesu Christi nur in der bleibenden Bezogenheit auf Israel aussagbar ist und dass sich ihr die Glaubens-Geschichte Israels im Licht des Christusgeschehens erschließt. Als Selbstvollzug der Kirche („Hörerin des Wortes“) bleibt Schriftauslegung nicht auf Amtsträger und Fachleute beschränkt, sondern ist eine Aufgabe aller Glaubenden, die darin ihre unterschiedlichen Gaben einbringen (vgl. PBK III. B.3). Neben der Schriftauslegung im Schriftgebrauch der Glaubensgemeinschaft (z.B. Liturgie, Predigt, Katechese, geistliche Schriftlesung) erweist sich aus dem Bereich der methodisch orientierten Auslegungsarten die kanonische Schriftauslegung insofern als „schriftgemäße“ Schriftauslegung, als sie mit der Endgestalt des Kanons arbeitet.

5. Die neueren Entwicklungen in Hermeneutik und Methodik der Schriftauslegung sind geeignet, eine durch methodische Einseitigkeiten und Ausblendungen theologischer Fragestellungen geförderte Marginalisierung der Heiligen Schrift in der Theologie zu überwinden. So kann die Heilige Schrift als die „Seele der Theologie“ (dazu Dohmen-Stemberger 175ff.) und des kirchlichen Lebens stets neu zur Geltung kommen (vgl. PBK III D.4). Eine Einbeziehung des Kanons als des sachlich (nicht historisch) „ersten Kontextes“ (Steins) jedes auszulegenden Bibeltextes und die methodische Vorrangigkeit der Rezeptionsperspektive vor der historischen Rekonstruktion eröffnet einen neuen Zugang zum Sinn der inspirierten Schrift (PBK II. B.3 greift in dieser Perspektive die abgebrochene „Sensus plenior“-Debatte wieder auf) und ermöglicht, die Bibel als Buch zu lesen und als Glaubenszeugnis zu verstehen, was die beiden Säulen der Schriftauslegung ausmacht.

Quellen: Päpstliche Bibel-Kommission (PBK): Die Interpretation der Bibel in der Kirche (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 115), Bonn 1993 (als PDF-Datei bei der Deutschen Bischofskonferenz zu bekommen).

Literatur: TRE 30, 442-457 (G. Stemberger); 457-471 (D.A. Koch). - G.T. Sheppard: Canonization: Int 34 (1982) 21-33; J. Roloff: Schriftauslegung als theologische Aufgabe: Die Freude an Gott - unsere Kraft. FS O.B. Knoch. Stuttgart 1992, 221-227; N. Lohfink: Der weiße Fleck in Dei Verbum, Art. 12: TThZ 101 (1992) 20-35; U.H.J. Körtner: Der inspirierte Leser. Göttingen 1994; C. Dohmen/Th. Söding (Hg.): Eine Bibel - zwei Testamente. Paderborn 1994; B.S. Childs: Die Theologie der einen Bibel, 2 Bde. Freiburg 1994-96; C. Dohmen-G. Stemberger: Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments. Stuttgart 1996; L. Alonso Schökel: ‘Dei verbum’ 12 in due tappe: Vivens homo 8 (1997) 23-32; B.S. Childs: Toward Recovering Theological Exegesis: Pro ecclesia 6 (1997) 16-26; O. Fuchs, Kriterien gegen den Mißbrauch der Bibel: JBTh 12 (1997) 243-274; M. Görg: ‘Menschenwort’ und ‘Gotteswort’: MThZ 48 (1997) 239-253; E. McKnight: Der hermeneutische Gewinn der neuen literarischen Zugänge in der neutestamentlichen Bibelinterpretation: BZ 41 (1997) 161-173; G. Steins (Hg.), Leseordnung. Stuttgart 1997; C. Dohmen: Die Bibel und ihre Auslegung. München 1998; H. Schürmann: Wort Gottes und Schriftauslegung. Gesammelte Aufsätze zur theologischen Mitte der Exegese, hg. v. K. Backhaus. Paderborn 1998; G. Steins: Die ‘Bindung Isaaks’ im Kanon. Freiburg 1999.

CHRISTOPH DOHMEN / GEORG STEINS

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Stand: 31. Juli 2010.